Abtreibung in den USA: Die tragische Geschichte von «Jane Roe» (2024)

Norma McCorvey alias Jane Roe wurde dank dem Urteil «Roev.Wade», das in den USA den Schwangerschaftsabbruch legalisierte, berühmt. Für sie selbst kam der Schiedsspruch zu spät. Ein neues Buch wirft ein Schlaglicht auf das widersprüchliche Leben einer Mutter wider Willen und ihrer unerwünschten Tochter.

Abtreibung in den USA: Die tragische Geschichte von «Jane Roe» (1)

«Roev.Wade» ist eines der berühmtesten Urteile des Supreme Court in den USA. Es wurde 1973 gefällt und erklärt den Schwangerschaftsabbruch prinzipiell zur Privatsache. Der Grundsatzentscheid hielt fest, dass die meisten damals in den Gliedstaaten geltenden Abtreibungsverbote das Recht auf Privatsphäre verletzten und dadurch nichtig wurden. Er erlaubt Schwangerschaftsabbrüche bis zur 24.Schwangerschaftswoche. Für viele Amerikaner ist diese Regelung bis heute skandalös, kaum ein Thema polarisiert in den USA so sehr wie die Abtreibungsfrage. Gerade Anfang September trat in Texas ein Gesetz in Kraft, das Abtreibungen nur noch bis zur sechsten Schwangerschaftswoche erlaubt und eigentlich im Widerspruch zu «Roev.Wade» steht.

Mal für Abtreibung, mal dagegen

Hinter dem Pseudonym «Roe» stand eine 22-Jährige namens Norma McCorvey. Ihre ersten beiden Kinder hatte sie zur Adoption freigegeben, nun wollte sie abtreiben. Das war aber an ihrem Wohnort in Texas laut Gesetz nicht möglich. Ihre Anwältinnen reichten unter McCorveys Pseudonym Jane Roe 1970 eine Klage ein und argumentierten, das Abtreibungsverbot verstosse gegen das im 14.Verfassungszusatz garantierte Recht auf ein ordentliches Verfahren. Der zuständige Bezirksstaatsanwalt Henry Wade wies die Klage ab, und die Anwältinnen legten beim Obersten Gerichtshof Berufung ein, die 1973 gutgeheissen wurde. Aber für McCorvey war es zu spät. Sie hatte inzwischen ein Mädchen zur Welt gebracht und es ebenfalls zur Adoption freigegeben.

Das ganze Gerichtsverfahren und auch das Resultat hatte sie kaum zur Kenntnis genommen. McCorvey war keine Aktivistin, es war ihr nicht um die Abtreibung an sich gegangen, sondern nur um ihre eigene. Später engagierte sie sich ein paar Jahre für das Recht auf Schwangerschaftsabbruch, dann ein paar Jahre lang dagegen. Wegen dieser widersprüchlichen Haltung wurde es eher ruhig um die 2017 Verstorbene. Obwohl sie als «Roe» Geschichte schrieb, vermieden sowohl Abtreibungsgegner wie -befürworter die Nennung ihrer Person, mit der sich schlecht Werbung machen liess.

Im kürzlich erschienenen Buch «The Family Roe: An American Story» erzählt Joshua Prager die Geschichte von McCorvey und ihrer Tochter, die immer wieder als «Roe-Baby» instrumentalisiert wurde, aber hier zum ersten Mal selbst zu Wort kommt. Es ist eine typische Biografie aus den Unterschichtsfamilien, die man in den USA verächtlich «white trash» nennt.

Alkohol, Vergewaltigung, Haft, Heim

Norma McCorvey kam 1947 in Louisiana zur Welt, später zog die Familie nach Texas. Als der Vater die Familie verliess, lebte sie fortan hauptsächlich bei ihrer Mutter, einer gewalttätigen Alkoholikerin. Mit zehn Jahren raubte das Mädchen eine Tankstelle aus und haute mit ihrer Freundin nach Oklahoma City ab, wo sie in einem Motel unterkamen. Als das Zimmermädchen die beiden küssend auf dem Bett ertappte, wurde Norma verhaftet und in ein Heim gesteckt.

Mit 15 wurde sie beim Cousin ihrer Mutter untergebracht, der sie mehrmals vergewaltigte. Mit 16 heiratete Norma, verliess den Mann, als sie schwanger war, und brachte ihre erste Tochter zur Welt. Sie nahm Drogen und trank. Mit einem juristischen Trick entzog Normas Mutter ihr das Sorgerecht für das Baby, adoptierte es und warf Norma aus der Wohnung. Inzwischen bekannte sich Norma zu ihrer hom*osexualität, wurde mit 20 aber erneut schwanger und gab das Kind gleich nach der Geburt ebenfalls zur Adoption frei.

Als sie ein Jahr später wieder schwanger wurde, wollte sie abtreiben. Sie behauptete deshalb gegenüber der Polizei, sie sei vergewaltigt worden (was sie später selbst widerrief). Mangels Beweisen kam McCorvey damit nicht durch. Sie versuchte es dann mit einem illegalen Schwangerschaftsabbruch, aber die Klinik wurde gerade in jenen Tagen von der Polizei geschlossen. Jemand machte sie mit zwei feministischen Anwältinnen bekannt, die eine Frau suchten, um mit ihr vor Gericht gegen das Abtreibungsverbot vorzugehen. Norma McCorvey war nicht gerade die Idealbesetzung für diese Rolle, und die Anwältinnen hielten sie bewusst im Hintergrund, um das Anliegen nicht durch ihre Unberechenbarkeit zu gefährden.

Von militanten Abtreibungsgegnern bestochen

Erst Anfang der achtziger Jahre, als McCorvey in einer Abtreibungsklinik arbeitete, begann sie sich öffentlich in der Pro-Choice-Bewegung, die sich für das Selbstbestimmungsrecht der Frauen einsetzt, zu engagieren. In den neunziger Jahren schloss sie sich jedoch evangelikalen Predigern und radikalen Abtreibungsgegnern an. Im letztes Jahr erschienenen Dokumentarfilm «AKA Jane Roe» erklärte sie allerdings kurz vor ihrem Tod, sie habe sich nur wegen des Geldes für die Pro-Life-Gruppierungen einspannen lassen und ihrer hom*osexualität abgeschworen. Die Prediger selbst bestätigten, sie bestochen zu haben.

McCorvey war laut Prager eine zutiefst unglückliche Frau. So erfüllten sie etwa Spielplätze mit Schrecken. Leere Spielplätze erinnerten sie an Abtreibungen und «Roe», belebte Spielplätze machten sie traurig wegen ihrer Kinder, die sie weggegeben hatte.

Das «Roe-Baby»

Im Buch erfährt man nun auch, wer das «Roe-Baby» ist. Es heisst Shelley Lynn Thornton und wurde am 2.Juni 1970 in Dallas geboren. Über den Vater ist nichts bekannt. Als «Roev.Wade» entschieden wurde, war das Mädchen zweieinhalb Jahre alt und lebte bei Adoptiveltern. 1989 nahm Norma McCorvey über eine Journalistin Kontakt zu ihrer Tochter auf, vermutlich vor allem, weil ihr eine Boulevardzeitung Geld für die Story bot. Für Shelley Lynn Thornton war es ein Schock. Sie erfuhr erst jetzt, wer ihre Mutter war und dass diese sie damals hatte abtreiben wollen. Sie verweigerte ein Treffen. Sie heiratete und bekam drei Kinder. Sie traf später zwar ihre zwei Halbschwestern, aber verschloss sich dem Kontakt zu Norma McCorvey bis zu deren Tod.

Shelley Lynn Thornton lebt seit ihrer Jugend mit Depressionen. Sie glaubt, dass diese auf das vorgeburtliche Gefühl zurückgehen, nicht erwünscht zu sein. Die Pro-Life-Bewegung hätte sie gerne als Aushängeschild benützt – als eine junge, glückliche Frau, die nach dem Willen ihrer Mutter nie geboren wäre. Aber Shelley Lynn Thornton wollte sich von niemandem einspannen lassen. Und glücklich war sie auch nicht. Sie leidet bis heute am tiefen Gefühl, zwar zu leben, aber nicht geliebt zu werden.

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