Donald Richie: Versuch über die japanische Ästhetik – endlich auf Deutsch erschienen (2024)

Donald Richie – auch so einer, der mich schon viele Jahre begleitet.Wenn ich bei dem Namen Donald Richie ganz tief in mich hineinhöre, muss ichehrlicherweise gestehen, dass ich ihn wirklich beneide. Donald Richie hat einLeben geführt, von dem ich mir sehr gerne eine Scheibe abschneiden würde – einedicke Scheibe sogar.

Donald Richie

Nach dem zweiten Weltkrieg, zu Zeiten der amerikanischenBesatzung Japans, lernte er das Land auf eine Weise kennen, die ihn nicht mehrloslassen sollte. Als Journalist für die Far East Stars and Stripes WeeklyReview, eine Publikation für die US-Amerikanischen Streitkräfte, verfasste erseine ersten Texte über Japan. Im Laufe seines Lebens sollten an die 40 Bücherüber Japans Kultur und Gesellschaft folgen. Der japanische Film war schließlichdas Thema, das man in besonderem Maße mit Donald Richie verbindet.

Wer selbst eine Weile in Japan gelebt hat, den mag besondersfaszinieren, wie sehr Donald Richie im Laufe der Jahre in der japanischen Gesellschaftangekommen war. Beginnend mit Kontakten zur Filmwelt, Akira Kurosawa, ToshiroMifune, Nagasi Ôshima oder Kashiko Kawakita wurde er mehr und mehr Teil desjapanischen kulturellen und künstlerischen Lebens – als einziger Nicht-Japanerauf hochkarätigen Partys, Hochzeiten, Versammlungen. Der Vergleich, Donald Richieals Lafcadio Hearn der Nachkriegszeit – ich finde das durchaus passend. Nurdass er in Japan auch als Film-Kurator, Maler und sogar als Komponist tätigwar. Er lebte sein Leben.

Donald Richie: Versuch über die japanische Ästhetik – endlich auf Deutsch erschienen (1)

Im Grunde verbrachte Donald Richie fast sein ganzes Leben inJapan. Damit war er einer der wenigen Westler, der jede Sekunde des Wandlungsprozessesvon der Nachkriegsmodernisierung bis zur heutigen Zeit miterlebte. Und doch warihm eines sehr bewusst – dass er trotz der langen Zeit und trotz der Nähe zu sovielen Menschen, am Ende des Tages immer ein „Fremder“ in Japan bleiben würde. Daseinmal dazugehören und dann doch wieder nicht mag aber genau das richtige Maßan Distanz gewesen sein, um ein Leben lang als feinsinniger Beobachter in Japanfungieren zu können.

Versuch über die japanische Ästhetik

Eines seiner Klassiker ATractate on Japanese Aesthetics ist nun (2020) endlich auf Deutscherschienen: Versuch über die japanischeÄsthetik. Ich sage endlich, denn der englische Originaltext, so sehr ichihn auch schätze, war, als ästhetisch-philosophischer Text, fürNicht-Muttersprachler eine kleine Herausforderung.

  • Donald Richie: Versuch über die japanische Ästhetik – endlich auf Deutsch erschienen (2)
  • Donald Richie: Versuch über die japanische Ästhetik – endlich auf Deutsch erschienen (3)

In Versuch über diejapanische Ästhetik geht es um die Ästhetik in Japan als solche, ein „Phänomen“,das in Japan so natürlich und unaufgeregt im Alltag daherkommt, dass es dafürim japanischen Sprachgebrauch lange nicht einmal einen Namen gab. Japan ist einLand, das über Jahrhunderte von einem Geflecht an ästhetischen Konzeptengetragen wurde. Und dieses Geflecht war in eben jenem Nachkriegsjapan, das Richiein den ersten Jahren nach seiner Ankunft erlebte, noch lebendig, es war einfachnatürlich präsent. Er wusste aus erster Hand von Iki und Wabi Sabi zu berichten,von den Lehren des guten Geschmacks, von Zen und von der Schönheit derVergänglichkeit. Es ist die vollkommen eigentümliche Eleganz Japans, die Richiehier beschreibt, aber nicht im Sinne einer logischen dichten Beschreibung, alsvielmehr im Sinne eines typisch japanischen Essays, der sich, wie dasjapanische Denken an sich, ganz und gar intuitiv dem Thema nähert.

Das Thema der japanischen Ästhetik ist beileibe abstrakt.Dennoch meinen zahlreiche westliche Bertachter, seien es Laien oder jene vomFach, eine Vorstellung davon zu haben. Die vermeintlich bekannten Bilder, siebestehen aus klassischen japanischen Holzhäusern mit dichtem Strohdach bedeckt,wie in den alten Filmen, auf Farbholschnitten oder wie es Alex Kerr noch inseinem Buch Lost Japan beschreibt. Alles ist regenverhangen, idyllisch und meditativ,die Holzsandalen sind säuberlich im häuslichen Eingangsbereich aufgereiht. DasLand aus Holzhütten, es wurde in vielen Reisetagebüchern, Reportagen undBriefen und auch japanischen Essays verehrt. Eben jene Schriften von LafcadioHearn, Richie, Tanizaki oder Makoto haben ihren Anteil daran.

Aber es lässt sich nicht leugnen, das ästhetische Geflecht, daseben jene Bilder einschließt, es wird brüchig, es hat schon lange anElastizität verloren. Die Dinge in Japan haben sich geändert. Es ist ein Wunschtraum,dass Japan so „schön“ bleiben möge, wie es um 1900 oder zuvor war. Aber auch Richiemusste miterleben, wie die Moderne Japan in schlimmster Weise heimgesucht hat.Konsum und lauter Kommerz sind allzeit präsent. Grelles, Buntes und Lautes habenEinzug gehalten und vieles an ursprünglicher japanischer Ästhetik verdrängt. UndDonald Richie war einer, der darunter litt und daran verzweifelte wie kaum einanderer.

Sicherlich, sich zu modernisieren ist ein Recht einer jedenNation und Kultur. Es ist ein normaler Akt. Aber weil nicht der Japaner, sondernder Westler Richie dieses Buch geschrieben hat, wirkt es wie ein Aufschrei undauch wie eine scharfe Klage: Seid ihreuch eures Schatzes überhaupt bewusst? Die Frage ist natürlich generellberechtigt: Sind sich die Japaner Ihres Schatzes, ihres enormen ästhetischen kulturellenErbes wirklich bewusst? Wissen sie es zu schätzen, aus welchem ästhetischenFundus sie zu schöpfen vermögen und nehmen sie das Verblassen dieses Erbes allzuleichtfertig in Kauf? Ist Japan in dieser Hinsicht anders, als andere Nationenoder drängt sich uns, den westlichen Betrachtern diese Frage nur so vehementauf. Oder ist Japan vielleicht schon wieder in einer Gegenbewegung angekommen,eine Rückbesinnung auf ästhetische Werte, die nie ganz verloschen waren und nunwieder mehr und mehr ins Leben zurückkehren?

Die romantisch verklärte Zeit der „Holzhütten“ wird nichtwieder zurückkommen, egal wie sehr wir ihr nachhängen. Und es ist auch einIrrtum, zu glauben, dass Japan immer so bleiben muss, um den ästhetischen VorstellungenJener nachzukommen, die selbst nicht in verrauchten und kalten Holzhütten lebenwollten.

Der Versuch über die japanische Ästhetik, eines der letzten Bücher, die Ronald Richie schrieb, ist vielleicht sein letzter verzweifelter Versuch, das Japan, das er kannte und liebte, theoretisch einzufangen. Es ist eine leidenschaftliche Hommage an Japans ästhetische Werte und Traditionen. Für mich beinhaltet dieses Buch aber auch die Aufforderung, auch in Zukunft an das zu glauben, was Japan einst in tiefstem Maße ausmachte. Es ist eine Mahnung, aber nicht von „außen herab“ als vielmehr die Mahnung eines guten Freundes. Ein Versuch über die japanische Ästhetik.

Donald Richie: Versuch über die japanische Ästhetik – endlich auf Deutsch erschienen (4)

Quellen: Donald Richie, Versuch über die japanische Ästhetik, MSB Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2020

Ähnliche Beiträge

  • Die besten Bücher über japanische Kunst und Design

    Bücher über japanische Kunst: Japan ist ein Fest für die Sinne. Selbst das Alltäglichste erscheint…

  • Japanische Ästhetik: Kunst aus Japan ist - einfach - schön

    „Selbst der Samurai nimmt seine Rüstung ab, um die Chrysanthemen zu bewundern.“ (Vervoordt) Keine Angst,…

  • Wabi-Sabi Ästhetik

    Alles ist vergänglich - nichts ist fertig - nichts ist perfekt. Mir kommt es so…

Donald Richie: Versuch über die japanische Ästhetik – endlich auf Deutsch erschienen (2024)
Top Articles
Latest Posts
Article information

Author: Zonia Mosciski DO

Last Updated:

Views: 5851

Rating: 4 / 5 (71 voted)

Reviews: 86% of readers found this page helpful

Author information

Name: Zonia Mosciski DO

Birthday: 1996-05-16

Address: Suite 228 919 Deana Ford, Lake Meridithberg, NE 60017-4257

Phone: +2613987384138

Job: Chief Retail Officer

Hobby: Tai chi, Dowsing, Poi, Letterboxing, Watching movies, Video gaming, Singing

Introduction: My name is Zonia Mosciski DO, I am a enchanting, joyous, lovely, successful, hilarious, tender, outstanding person who loves writing and wants to share my knowledge and understanding with you.